19.10.2023

Verzweiflung statt Hoffnung auf Geschwisterlichkeit

Die Gräueltaten der Hamas an israelischen Zivilisten haben weltweit Entsetzen ausgelöst. In unvorstellbarer Grausamkeit wurden Männer, Frauen und Kinder entführt, verletzt, vergewaltigt und ermordet. Der Schmerz des israelischen Volkes ist unermesslich; fast jeder kennt jemanden, der zu Schaden gekommen ist. Ebenso groß wie Trauer und Angst ist die Wut auf das Geschehene. Ein Schrei nach ausgleichender Gerechtigkeit wird laut. Vergeltung wird gefordert; einige wollen gar, dass der ganze Gazastreifen dem Erdbeben gleichgemacht und von nun an „Nova“ genannt wird – nach dem Festival in Re’im, bei dem mindestens 260 Besucher ermordet, 100 als Geiseln in den Gazastreifen entführt und noch weitere verletzt wurden.

Die Sozialen Medien sind voll von Bildern und Videos, die anzuschauen unerträglich ist. Da ist das Video von Shani Louk, einer Deutschen; ihr lebloser, halbnackter Körper liegt auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks der Hamas. Ein Entführer zieht ihr an den Haaren, ein Jugendlicher spuckt ihr auf den Kopf. Ein anderes Video zeigt einen palästinensischen Vater in Gaza, der sein totes Baby in ein weißes Tuch gewickelt in den Armen wiegt. Der Schmerz ist ihm ins Gesicht geschrieben.

Die Nachrichten treffen auch mich in den vergangenen zehn Tagen wie ein Schlag. Da ich länger in Jerusalem und eine Zeit lang auch in Tel Aviv gelebt habe, habe ich Bekannte und Freunde vor Ort. Sie sind Juden und Muslime, Christen verschiedener Konfessionen und Nationalitäten, Palästinenser in der Westbank, Beduinen in der judäischen Wüste, säkulare und arabische Israelis. Ich schreibe ihnen besorgte Nachrichten. Fast gleichzeitig kommen zwei Antworten. Die erste von Boaz, einem jüdischen Israeli in Tel Aviv, Enkel niederländischer Holocaust-Überlebender, Großneffe eines im KZ von den Nazis ermordeten homosexuellen Mannes. Er schreibt: „Unvorstellbar schreckliche Tage. Die Freunde eines guten Freundes von mir wurden verletzt oder getötet.“ Die zweite Nachricht kommt von Fatima, Beduinentochter aus der judäischen Wüste im Westjordanland. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich um Menschen mit Behinderungen gekümmert. Sie schreibt: „Heute ist mein Cousin mit seiner Frau und drei Kindern ermordet worden in Gaza. Das ganze Haus ist gerissen.“

Wenn Gewalt hin und her geht, Schlag um Schlag, stellt sich die Frage, wann es genug, wann ausgleichende Gerechtigkeit erreicht ist. Kann das je der Fall sein? Oder muss, um des Friedens willen, nicht eine andere Vorstellung in den Vordergrund treten. Der Sozialethiker Wolfgang Palaver macht für Krisen und Konflikte den Begriff der Geschwisterlichkeit stark. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Der menschenverachtende Terror der Hamas zerstört jegliche Form wünschenswerter Geschwisterlichkeit. Zurück bleibt hilflose Verzweiflung.

Kann ich jemanden töten, in dem ich meinen Bruder oder meine Schwester sehe? Boaz und Fatima kennen sich nicht. Obwohl sie Nachbarn sind, konnten sie sich nie begegnen. Ich bin mir sicher, sie würden sich gut verstehen. Ich bin mir sicher, sie würden auf der gleichen Seite stehen – auf der Seite des Lebens.