10.12.2021

Fortschrittsglaube

Da gehn die einen müde fort,

Die andern nahn behende,

Das alte Stück man spielt's so fort

Und kriegt es nie zu Ende.

 

Nun also volle Kraft voraus. Die neue Regierung als Deutschlands neue Fortschrittspartei. Fortschrittsoptimismus ist angesagt nach einer Zeit des gefühlten Stillstands. Doch wohin geht die Reise? Sprachwissenschaftlich betrachtet ist „Fortschritt“ ein Kofferbegriff: der „Koffer“ als Aufgaben-Gepäck, in den jeder etwas anderes hineintun kann, ohne dass man davon etwas sieht. Oder, wenn das insbesondere dem noch amtierenden sozialdemokratischen Generalsekretär lieber ist: eine Matrjoschka, außen bunt lackiert, innen hohl, unter deren Hülle sich immer neue Figuren verstecken.   

Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.“ Das Regierungsprogramm der Ampelkoalition klingt wie eine Verheißung, und erst im Vollzug dürfte erkennbar werden, wohin dieser Fort-Schritt führt. Bedeutet MEHR FREIHEIT weniger Gemeinsinn und gesellschaftlicher Verantwortung? Ist die Aussicht auf MEHR GERECHTIGKEIT mehr als ein allgemeines Wunschkonzert zur Beruhigung der Nation? Macht man Ernst mit MEHR NACHHALTIGKEIT, dem Zurückstellen eigener Verwirklichungsträume zugunsten einer nachwachsenden Generation?

Angesichts eines dramatischen Rückfalls in längst überwunden geglaubte Nationalismen und Radikalismen, in Abgrenzungs- und Ausgrenzungsszenarien … sehnen wir uns geradezu nach zivilisatorischem Fortschritt: einem MEHR an engagierter Menschlichkeit, an zivilisatorischer Reife und gemeinwohlorientiertem Bürgersinn. Was wäre das für ein Signal, wenn es gelänge, dafür tatsächlich ein gesellschaftsübergreifendes Bündnis auf die Beine zu stellen, das nicht haltmacht an den Grenzen von Herkunft und Geschlecht, Bildung und Religion!

Fortschrittsglaube - ein aufgeklärter Sehnsuchtsbegriff zwischen Ideologie und Utopie (Loewenstein), der vielleicht doch die Macht hat, eine neue Erzählung in Gang zu setzen. Es wäre den Versuch wert.  

 

Und keiner kennt den letzten Akt

Von allen, die da spielen,

Nur der da droben schlägt den Takt,

Weiß, wo das hin will zielen.

(Joseph von Eichendorff, Volkslied)

 

Prälat Dr. Peter Klasvogt