18.09.2020

Geht unser humanistisches Bildungsideal verloren?

Studiert in Regelstudienzeit mit Bestnoten, Auslandsaufenthalt, mehrere Sprachen sprechend, diverse Praktika absolviert – das sind die Anforderungen an Studierende, die Karriere bei einem großen internationalen Unternehmen machen möchten. Von Kindesbeinen an werden junge Menschen auf Erfolg ausgerichtet: Schon im Kindergarten eine Fremdsprache lernen, das Abitur ein Muss und nach der Schule scheint lediglich ein Hochschulabschluss statt Ausbildung angemessen zu sein. Leistung ist das, was zählt!

Die Konsequenz dieser Entwicklung: Soziales Engagement bleibt oft auf der Strecke oder wird zumindest kaum gefördert. In Deutschland sind ca. ein Viertel aller Ehrenamtlichen 70 Jahre oder älter. Nur etwa die Hälfte der Studierenden ist gesellschaftlich engagiert – in den Fachbereichen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften sind es sogar nur 40%! Hinzu kommt, dass als Folge des Leistungsdrucks an der Universität etwa ein Sechstel der Studierenden an dem depressiven Syndrom oder einer generalisierten Angststörung leidet. Zwischenmenschlichkeit und soziale Kompetenzen gehen verloren, da die strukturellen Bedingungen die Studierenden zu Egoismus und Konkurrenzdenken nötigen, statt Solidarität und Engagement zu fördern. Dies ist eine Gefahr für die Zukunft unserer solidarischen und demokratischen Gesellschaft!

Beugt sich unser Bildungssystem weiterhin den Anforderungen der Wirtschaft, verlieren wir unser humanistisches Bildungsideal. Um dem entgegen zu wirken, muss „Glück und Zufriedenheit“ gesellschaftlich neu und nicht nur über „beruflichen Erfolg und Karriere“ definiert werden. Dies hätte auch Auswirkungen auf die Anforderungen an die Universität: Leistungsdruck müsste abgebaut und soziales Engagement damit gefördert werden. Statt egoistisch zu handeln, sollten Studierende sich gegenseitig motivieren und unterstützen. Ziel des Studiums sollte nicht nur unendlich viel auswendig gelerntes (Fach-)Wissen, sondern auch der Erwerb von (sozialen) Kompetenzen sein. Davon profitieren nicht nur die Studierenden, sondern die gesamte Gesellschaft. Denn dann bleibt auch Zeit für das Zwischenmenschliche und das Soziale, das, was in Bewerbungsprozessen bekannt als „Softskills“ bisher leider kaum zählt.

Anna-Christina Beiker