Eine neue Politik in Frankreich

„Deutschland schaut gespannt nach Frankreich“, leitete Prälat Dr. Peter Klasvogt, Direktor der Kommende die Veranstaltung „Durchatmen in Frankreich, Chancen einer neuen Politik im Nachbarland“ ein. Ebenso wie das Publikum war er gespannt, wie es in Frankreich nach der Wahl von Emmanuel Macron, den jüngst die „Zeit“ als Heiland betitelte, gesellschaftlich und politisch weitergeht. Mit der ehemaligen Paris-Korrespondentin des Deutschlandsradios Ursula Welter und mit Hervé-Marie Cotten, Priester der Diözese Le Mans, Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des interdiözesanen Seminars für politische und soziale Ethik, informierten zwei ausgewiesene Frankreich-Experten die Besucher.

Die französische Situation und vor allem die ganz eigene Mentalität der Franzosen erklärte Hervé-Marie Cotten. Die Armut werde in Frankreich, einem der reichsten Länder der Welt, immer gegenwärtiger. Und mache den Menschen Angst. „Drei Millionen Kinder leben in Armut“, so der katholische Priester. „Und neben der materiellen Armut fühlen sich die Menschen zunehmend isoliert. Und das stärkt den Einfluss des Front National.“ Drei Armutsursachen macht der Wirtschaftswissenschafter aus: den schlechten Arbeitsmarkt, zerfallende Familienstrukturen und immer mehr alleinerziehende Mütter. „Das alles hat einen Einfluss auf die Gesellschaft, Spannungen entstehen und tragen zum Erfolg des Populismus bei. Denn der Sündenbock sind die Flüchtlinge“, fasst Hervé-Marie Cotten zusammen.

Dabei sei der Lebensstandard in Frankreich gestiegen. „Es handelt sich um eine psychologische und keine objektive Frage. Aber die Franzosen empfinden nach dem Verlust der Kolonien ihr Land im Niedergang.“ Auch die dringend nötige Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, der einen mittelständischen Familienbetrieb mit einem Großkonzern gleichsetzt, sei schwierig mit der französischen Mentalität zu vereinen. „Das widerspricht dem französischen Gedanken des Egalité. Reformen sind kompliziert bei uns.“

Zudem befinde sich das Land in einer politischen Krise. „Wir Franzosen erwarten alles vom Staat. Der Staat ist unser Vater und unsere Mutter. Der Staat ist Religion und die Lehrer sind seine Missionare, die die Werte der Republik vermitteln.“ Auch Politik werde im staatlichen Sinne verstanden, welche „von oben“ Impulse geben solle. Die Dezentralisierung, welche eben auch den unerwünschten Rückgang des Staates bedeute, habe ebenfalls zum Aufstieg des Front National im Jahr 2002 beigetragen. Politische Skandale und ein wenig charismatischer Staatspräsident Hollande, dem es nicht gelang, die Bevölkerung zu erreichen, gaben dem Volk das Gefühl, gespalten, unverstanden und der Globalisierung hilflos ausgeliefert zu sein.

Entsprechend groß seien die Herausforderungen, mit denen der neue Staatspräsident zu kämpfen habe. „Die erste Herausforderung sind die Parlamentswahlen. Seine neue Partei ist wenig bekannt. Und seine Regierung wird bunt werden“, sagt Hervé-Marie Cotten voraus. Und dann gehe es an die ganz großen Baustellen: Versöhnung und Einigung des Volkes. Reform des Arbeitsmarktes, der Bildung. Und die Gestaltung Europas.“

Auch Ursula Welter sieht in Europa eine der ganz großen Herausforderungen für Macron: „Frankreich hat die Verträge von Maastrich noch nicht verdaut. Die Franzosen waren gegen mehr Europa, gegen eine Währungsunion, gegen liberalen Handel und zwar durch alle Parteien und aus Angst vor dem Verlust der französischen Souveränität. Macron wird den Franzosen diese Angst vor Europa nehmen müssen. Sowohl die EU-Osterweiterung, als auch der starke Nachbar Deutschland lösen soziale Ängste aus. Aber wenn Macron, der eine bedeutend bessere Ausgangslage hat als Sarkozy oder Hollande, Erfolg in Brüssel hat. Wenn er Europa französischer und Frankreich sozialer machen kann, könnte ihm die Versöhnung gelingen und damit eine neue Politik jenseits von Rechts. Er ist eine starke Persönlichkeit und steht für eine neue Generation von Politikern. Durchatmen in Frankreich ist daher das richtige Bild“, schloss sie ihre Ausführungen.

Angesichts der geballten Frankreich-Kompetenz fielen die Publikumsfragen besonders breitgefächert aus: Von der hohen französischen Jugendarbeitslosigkeit und der Bereitschaft, vom deutschen dualen Ausbildungssystem zu lernen. „Frankreich ist da überaus interessiert“, meint Ursula Welter. „Aber ohne, dass wir Deutschen als Oberlehrer auftreten“, mahnt Präses Klasvogt.

Über die Energiepolitik. „Frankreich wird nicht aus der Atomenergie aussteigen. Aber eine junge Generation ist alternativen Energien gegenüber aufgeschlossen“, weiß Ursula Welter. Bis zur Rolle der Gewerkschaften. „Französische Gewerkschaften sind schwach. Daher sind sie gefährlich“, so Hervé-Marie Cotten. Und zur Persönlichkeit von Emmanuel Macron, dem neuen Staatspräsidenten. „Macron ist kein Parteistratege. Er ist durch echte Leidenschaft motiviert und er hat ein wirkliches Interesse an Europa“, erklärte Ursula Welter.

Und dass die Parlamentswahlen zu seinen Gunsten ausfallen werden, ist sich die Frankreich-Expertin sicher: „Wenn in Frankreich der Präsident präsidial ist, verschafft man ihm die Legitimation durch die Mehrheit.“

Autorin: Sun-Mi Jung